
Volksmärchen und Sagen der Frau Holle.
Gesammelt und neu geschrieben von Karl Paetow.
Erschienen im Husum Verlag
Die gleißende Kammer
Was wir hier erzählen, das ist schon so lange her, als sei es niemals
gewesen. Einem Tagelöhner wurde ein Mädchen geboren. Es war dies aber
das neunte Kind, und im ganzen Dorf fand sich keiner mehr, der die
Patenschaft übernehmen mochte. Denn wer arm ist, wird auch gemieden.
Die einen sagten: „Wir sind selber mit Kindern reichlich gesegnet!“
Andere meinten, es wären schlechte Zeiten. Und die Gutwilligen hatten
schon Gevatterschaft. Da machte sich der Vater auf in die Stadt zu den
reichen Vettern. Die aber kamen ihm schon auf dem Hausflur mit ihren
Sorgen entgegen, jammerten über die hohen Steuern und den flauen
Geschäftsgang, daß er schon gar nicht mehr wagte, sein Anliegen
vorzubringen. So hüllte er sich denn bekümmert in seinen Kummer und
trottete traurig heimwärts.
Am Waldrand traf er eine schmucke Frau, die gesellte sich zu ihm und
fragte auf dem Wege: ,,Welcher Mangel bedrückt dich?" Da dachte der
Arme: „Endlich kannst du dein Herz ausschütten.“ Und er klagte ihr
seine Not. Die Fremde sprach: „Kinder sind der Eltern Lust und Last.
Ich will dir aber helfen, und ihr sollt alle gut dabei fahren. Gib mir
das Würmchen, ich werde es halten wie meine Tochter." Weil sich dies
alles aber auf Frau-Hollen-Abend zutrug, so ahnte der Häusler wohl, wer
ihm da helfend begegnet war. Er vertraute der Unbekannten und gab sein
Kind in ihr Haus, das da steht in dem Garten Immergrün.
So wuchs denn das Mädchen im Reich der Frau Holle heran und lernte
beizeiten flink und fleißig zu dienen. Als aber die Schwelle des
zwölften Jahres überschritten war, da rief die Patin es zu sich,
drückte ihm ein mächtiges Schlüsselbund in die Hand und sprach: „Heute
muß ich ins Menschenland fahren. Hier gebe ich dir die Schlüssel zu
meinem Haus. Du sollst nun den ganzen Hausrat verwalten, aufräumen und
fegen. Aber das schärfe dir wohl ein: Die dreizehnte Kammer, die darfst
du bei Strafe niemals betreten."
Nun versorgte die kleine Hausmutter die ganze Wirtschaft. Des Morgens
mußte sie Wasser tragen, dann kochen und alle Stuben fegen, aufräumen
und putzen, daß kein Mäuschen ein Stäubchen fand. Ehe sie sich’s
versah, so war schon Abend, und sie sank müde ins Bett, betete ihr
Nachtgebet und war's zufrieden. So rannen zwölf fleißige Tage dahin,
und der dreizehnte Tag fand sie so sorgsam wie je. Als sie aber alle zwölf Zimmer gefegt und gerichtet
hatte, blieb ihr noch ein wenig Zeit vor dem Schlafengehen, denn die
Arbeit ging ihr schon flott von der Hand. So verhielt sie denn vor der
verbotenen Türe, und der dreizehnte Schlüssel brannte ihr unter dem
Daumen. Da konnte sie nicht länger widerstehen und schaute durch das
Schlüsselloch in die verbotene Kammer.
Aber aus dem Gemach drang ein so gleißender Schein hervor wie von der
goldenen Sonne, davor sie, geblendet und erschrocken, die Augen schloß,
als wären sie erloschen. Wie sie nun wieder zu sich kam, hatte sie das
Gold an den Fingern und im Gesicht, und ihre Haare waren zu gleißendem
Gold geworden. So mächtig war dieser Brand auf sie übergegangen. Und
wie sie sich auch waschen mochte, das Gold hing ihr im Gesicht und an
den Fingern und an ihrem Schopf. Da überkam sie Todesangst und am
liebsten wäre sie gleich in den Boden versunken. Ihren Fehl zu
verhehlen, umwickelte sie die goldenen Stellen mit leinenen Läppchen.
Aber schon stand Frau Holle hinter ihr und herrschte sie an: „Was
sollen die Lumpen?“ Da rief das Mädchen in Herzensnot: „Das Brotmesser
hat mich in den Finger gebissen!“ Nun wollte Frau Holle die Wunde sehen
und riß das Tuch ab. Da sah sie denn, wie sehr das Mädchen vergoldet
war, und sagte streng: „Bist du in der verbotenen Kammer gewesen?" Aber
das Mädchen schüttelte den Kopf. Und Frau Holle grollte, daß es nicht
mit der ganzen Wahrheit herauskam, und verwünschte das ungehorsame Kind:
„Goldne Haare,
stumme Jahre.
Enges Haus,
ein und aus.
Königsbraut,
Hexenkraut,
Flammenschein
löst Schuld und Pein.“
Da verlor die Jungfrau die Sprache und wurde stumm wie ein Fisch. Dann
mußte sie in eine große Lade steigen. Frau Holle schlug den Deckel zu,
und ihre Zwerge trugen die Truhe zum dunklen Wald und setzten sie auf
einem Hügel aus. Aber eine weiße Taube brachte der Gefangenen nun mit
jedem Morgenstrahl ein Körbchen voll Brot und ein Gläschen Wein. Anders
wäre sie wohl verhungert.
Nun trug es sich zu, daß der Königssohn in jenem Walde zu ja- gen kam.
Und er sah einen gewaltigen Hirsch, spornte sein Roß und hetzte durch
Braken und Büsche. Der Hirsch sprang über den Kasten, und weg war er.
Da riß der Prinz sein Roß zurück und betrachtete sinnend das
geheimnisvolle Möbelstück. Und weil nun die Truhe so schön geschnitzt
und beschlagen war, ließ er sie in sein Schloß schaffen. Aber
aufschließen konnte er sie freilich nicht, und in seinem ganzen Reich
fand sich kein Schlosser, der einen passenden Schlüssel brachte.
Nun wartete das Mädchen vergeblich auf die Taube, welche sie sonst wohl
versorgte. Dafür öffnete sich der Deckel zu jeder mitternächtlichen
Stunde. Dann stieg die Stumme heraus und suchte im ganzen Schlosse nach
Brot und Wein. So kam sie auf ihrem nächtlichen Wandel auch in das
Schlafgemach des Prinzen, Da las sie in seinem Angesicht so viel
Liebes, daß sie seine Wangen streicheln und küssen mußte. Davon
erwachte der Jüngling aus seinen Träumen. Aber er war ganz geblendet,
sah nur einen gleißenden Schein und hörte eine liebliche Stimme.
Am andern Morgen glaubte er, es sei ein holder Traum gewesen. In der
folgenden Nacht aber kam das schöne Mädchen zurück, küßte den Jüngling
und streichelte seine Locken. Wieder war ihr Antlitz in goldenen Schein
getaucht. Da sagte der Prinz am anderen Morgen: „Das goldene Kind, das
mich heute im Traume geküßt hat, das will ich heiraten, und keine
andere soll meine Frau werden!"
Doch in den folgenden Nächten blieb die Erscheinung aus. Der Königssohn
verzehrte sich in Sehnsucht und durchschweifte rastlos die Wälder
seiner Heimat. Wenn er dann morgens müde und hungrig nach Hause kam, so
war die für ihn bereitgestellte Speise schon aufgegessen. Aber keiner
wußte, wer der nächtliche Dieb gewesen war. Da beschloß der Jüngling,
selbst zu erforschen, und verbarg sich nächtens im Speisesaal. Der
Mondschein floß in silbernen Streifen über die Fliesen. Als aber die
Glocke die Mitternacht schlug, da klinkte die Türe auf, und das
Goldmädchen stand in der Halle. Jetzt griff sie der Königssohn bei der
Hand und rief: „Du hast von meinem Teller gegessen, du bist in meine
Kammer gedrungen und hast im Traum mich geküßt, und du und keine andere
sonst sollst meine Frau werden. Und wenn du auch hundertmal stumm bist,
und ich nicht weiß, woher du kommst, so hab ich dich doch lieb über
alle Maßen!“
Nicht lange, so hielt der Königssohn Hochzeit mit dem stummen Mädchen
von Unbekannt. Und bald wurde die Königin mit einem goldhaarigen
Knäblein gesegnet. Aber in der Nacht, als sie alleine lag, erschien ihr
Frau Holle und fragte sie: „Sage mir nun, bist du in der gleißenden
Kammer gewesen?" Aber die Königin schüttelte den Kopf. Da nahm ihr Frau
Holle das Kind von der Brust und verschwand. Der König war untröstlich
über das verlorene Knäblein, und die junge Königin weinte sich die
Augen wund. Aber keiner außer ihr konnte wissen, wohin das Würmchen
gekommen war.
Über ein Jahr gebar die Königin nun ein zweites Knäblein. Und wieder
erschien ihr Frau Holle in der dritten Nacht und fragte sie: „Willst du
nun sagen, ob du in der verbotenen Kammer warst?" Aber die
Angstverstockte schüttelte traurig den Kopf. Da nahm ihr Frau Holle
auch dieses Kind fort. Als nun ein weiteres Jahr herum war und wieder
ein Knäblein geboren wurde, erschien ihr Frau Holle zum dritten Mal.
Sie drohte: „Wenn du heute nicht gestehst, so nehme ich auch dieses
letzte aus deinen Armen!" Aber die Königin war so tief in Furcht und
Verstocktheit befangen, daß sie die Wahrheit nicht über die Lippen
brachte. Da nahm Frau Holle den dritten Knaben an sich und überließ sie
ihrem Geschick.
Nun erhob sich das Volk in murrender Ungeduld wider den König und
forderte die Königin vor Gericht. Und der König vermochte nicht länger,
sie dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen. So brachen die Richter den
Stab über die goldene Frau und verurteilten sie als Hexe und
Menschenfresserin zum Tod durch das Feuer. Bald war der Scheiterhaufen
errichtet, schon leckten die Flammen gierig nach den nackten Füßen der
Königin. Da kam vom Walde her eine hohe Frau. Die Menge wich
ehrerbietig vor ihrem Blick. Dicht vor die Verdammte trat sie hin. Dann
fragte sie die Todgeweihte: „Nun sage mir endlich die Wahrheit. Bist du
in der gleißenden Kammer gewesen?" Doch die Königin schüttelte weinend
den Kopf. „Aber deine Haare und deine Hände sind ja vergoldet, und dein
Gesicht hat den goldenen Glanz!“
Da endlich löste die Not der Königin ihre Zunge, und sie rief: „Aber
ich habe doch nur durch das Schlüsselloch gesehen.“ „Ich wußte es
wohl“, sagte Frau Holle. „Aber das ist der Fluch der Verstocktheit, daß
sie dem Munde die Sprache zerbricht. Hättest du gleich den kleinen Fehl
eingestanden, so wäre euch großes Leid erspart geblieben. Nun sei's
genug!“ Und sie erhob ihre Hand. Da umhüllte ein Regenschauer den
Scheiterhaufen und löschte ihn aus. Dann fielen die Fesseln wie Zunder
der Königin von den Gelenken. Und Frau Holle führte die Leidgeprüfte
zurück in die Arme des glücklichen Gatten. Beide folgten ihr nun in den
Wald. Da zeigte sie ihnen hinter der Felswand eine sonnige Halde. Im
Gras aber spielten die drei verlorenen Königskinder. Die sprangen ihren
Eltern entgegen, umschlangen Vater und Mutter mit rosigen Ärmchen, und
alles Herzeleid erlosch vor dem Sommerglanz dieser goldenen Stunde.
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