
Gesammeltes Märchen
der Brüder Grimm
Dornröschen (1857)
Vorzeiten war ein König und eine Königin, die sprachen
jeden Tag: »Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!«,
und kriegten immer keins. Da trug sich zu, als die Königin
einmal im Bade saß, daß ein Frosch aus dem Wasser
ans Land kroch und zu ihr sprach: »Dein Wunsch wird erfüllt
werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur Welt
bringen.« Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und
die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön,
daß der König vor Freude sich nicht zu lassen wußte
und ein großes Fest anstellte. Er ladete nicht bloß
seine Verwandte, Freunde und Bekannte, sondern auch die weisen
Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären.
Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf
goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so mußte
eine von ihnen daheim bleiben. Das Fest ward mit aller Pracht
gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen
das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere
mit Schönheit, die dritte mit Reichtum, und so mit allem,
was auf der Welt zu wünschen ist. Als elfe ihre Sprüche
eben getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein.
Sie wollte sich dafür rächen, daß sie nicht
eingeladen war, und ohne jemand zu grüßen oder nur
anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: »Die Königstochter
soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen
und tot hinfallen.« Und ohne ein Wort weiter zu sprechen,
kehrte sie sich um und verließ den Saal. Alle waren erschrocken,
da trat die zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig
hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern
nur ihn mildern konnte, so sagte sie: »Es soll aber kein
Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in
welchen die Königstochter fällt.«
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern
bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle
Spindeln im ganzen Königreiche sollten verbrannt werden.
An dem Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen
sämtlich erfüllt, denn es war so schön, sittsam,
freundlich und verständig, daß es jedermann, der
es ansah, liebhaben mußte. Es geschah, daß an dem
Tage, wo es gerade fünfzehn Jahr alt ward, der König
und die Königin nicht zu Haus waren und das Mädchen
ganz allein im Schloß zurückblieb. Da ging es allerorten
herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam
endlich auch an einen alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe
hinauf und gelangte zu einer kleinen Türe. In dem Schloß
steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte,
sprang die Türe auf, und saß da in einem kleinen
Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und spann emsig
ihren Flachs. »Guten Tag, du altes Mütterchen«,
sprach die Königstochter, »was machst du da?«
»Ich spinne«, sagte die Alte und nickte mit dem
Kopf. – »Was ist das für ein Ding, das so lustig
herumspringt?« sprach das Mädchen, nahm die Spindel
und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel angerührt,
so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich
damit in den Finger.
In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie
auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf.
Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß:
der König und die Königin, die eben heimgekommen waren
und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen, und
der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im
Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen
an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herd flackerte, ward
still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln,
und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen
hatte, in den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief.
Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloß
regte sich kein Blättchen mehr.
Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen,
die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß
umzog und darüber hinaus wuchs, daß gar nichts mehr
davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dach. Es
ging aber die Sage in dem Land von dem schönen schlafenden
Dornröschen, denn so ward die Königstochter genannt,
also daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen
und durch die Hecke in das Schloß dringen wollten. Es
war ihnen aber nicht möglich, denn die Dornen, als hätten
sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge
blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen
und starben eines jämmerlichen Todes. Nach langen, langen
Jahren kam wieder einmal ein Königssohn in das Land und
hörte, wie ein alter Mann von der Dornenhecke erzählte,
es sollte ein Schloß dahinter stehen, in welchem eine
wunderschöne Königstochter, Dornröschen genannt,
schon seit hundert Jahren schliefe, und mit ihr schliefe der
König und die Königin und der ganze Hofstaat. Er wußte
auch von seinem Großvater, daß schon viele Königssöhne
gekommen wären und versucht hätten, durch die Dornenhecke
zu dringen, aber sie wären darin hängengeblieben und
eines traurigen Todes gestorben. Da sprach der Jüngling:
»Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und das
schöne Dornröschen sehen.« Der gute Alte mochte
ihm abraten, wie er wollte, er hörte nicht auf seine Worte.
Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der
Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte.
Als der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren
es lauter große schöne Blumen, die taten sich von
selbst auseinander und ließen ihn unbeschädigt hindurch,
und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke zusammen.
Im Schloßhof sah er die Pferde und scheckigen Jagdhunde
liegen und schlafen, auf dem Dache saßen die Tauben und
hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt. Und
als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der
Koch in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er den
jungen anpacken, und die Magd saß vor dem schwarzen Huhn,
das sollte gerupft werden. Da ging er weiter und sah im Saale
den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei dem Throne
lag der König und die Königin. Da ging er noch weiter,
und alles war so still, daß einer seinen Atem hören
konnte, und endlich kam er zu dem Turm und öffnete die
Türe zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen
schlief. Da lag es und war so schön, daß er die Augen
nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen
Kuß. Wie er es mit dem Kuß berührt hatte, schlug
Dornröschen die Augen auf, erwachte und blickte ihn ganz
freundlich an. Da gingen sie zusammen herab, und der König
erwachte und die Königin und der ganze Hofstaat und sahen
einander mit großen Augen an. Und die Pferde im Hof standen
auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen und wedelten;
die Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel
hervor, sahen umher und flogen ins Feld; die Fliegen an den
Wänden krochen weiter; das Feuer in der Küche erhob
sich, flackerte und kochte das Essen; der Braten fing wieder
an zu brutzeln; und der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, daß
er schrie; und die Magd rupfte das Huhn fertig. Und da wurde
die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in
aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr
Ende.

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