Gesammeltes Märchen
der Brüder Grimm
Die beiden
Wanderer
Berg und Tal begegnen sich nicht, wohl aber die Menschenkinder,
zumal gute und böse. So kam auch einmal ein Schuster und
ein Schneider auf der Wanderschaft zusammen. Der Schneider war
ein kleiner hübscher Kerl und war immer lustig und guter
Dinge. Er sah den Schuster von der andern Seite herankommen,
und da er an seinem Felleisen merkte, was er für ein Handwerk
trieb, rief er ihm ein Spottliedchen zu:
»nähe mir die Naht,
ziehe mir den Draht,
streich ihn rechts und links mit Pech,
schlag'schlag mir fest den Zweck.«
Der Schuster aber konnte keinen Spaß vertragen, er verzog
ein Gesicht, als wenn er Essig getrunken hätte, und machte
Miene, das Schneiderlein am Kragen zu packen. Der kleine Kerl
fing aber an zu lachen, reichte ihm seine Flasche und sprach:
»Es ist nicht bös gemeint, trink einmal und schluck
die Galle hinunter.« Der Schuster tat einen gewaltigen
Schluck, und das Gewitter auf seinem Gesicht fing an sich zu
verziehen. Er gab dem Schneider die Flasche zurück und
sprach: »Ich habe ihr ordentlich zugesprochen, man sagt
wohl vom vielen Trinken, aber nicht vom großen Durst.
Wollen wir zusammen wandern?« »Mir ist's recht,«
antwortete der Schneider, »wenn du nur Lust hast, in eine
große Stadt zu gehen, wo es nicht an Arbeit fehlt.«
»Gerade dahin wollte ich auch,« antwortete der Schuster,
»in einem kleinen Nest ist nichts zu verdienen, und auf
dem Lande gehen die Leute lieber barfuß.« Sie wanderten
also zusammen weiter und setzten immer einen Fuß vor den
andern wie die Wiesel im Schnee.
Zeit genug hatten sie beide, aber wenig zu beißen und
zu brechen. Wenn sie in eine Stadt kamen, so gingen sie umher
und grüßten das Handwerk, und weil das Schneiderlein
so frisch und munter aussah und so hübsche rote Backen
hatte, so gab ihm jeder gerne, und wenn das Glück gut war,
so gab ihm die Meistertochter unter der Haustüre auch noch
einen Kuß auf den Weg. Wenn er mit dem Schuster wieder
zusammentraf, so hatte er immer mehr in seinem Bündel.
Der griesgrämige Schuster schnitt ein schiefes Gesicht
und meinte: »Je größer der Schelm, je größer
das Glück.« Aber der Schneider fing an zu lachen
und zu singen und teilte alles, was er bekam, mit seinem Kameraden.
Klingelten nun ein paar Groschen in seiner Tasche, so ließ
er auftragen, schlug vor Freude auf den Tisch, daß die
Gläser tanzten, und es hieß bei ihm »leicht
verdient und leicht vertan.«
Als sie eine Zeitlang gewandert waren, kamen sie an einen großen
Wald, durch welchen der Weg nach der Königsstadt ging.
Es führten aber zwei Fußsteige hindurch, davon war
der eine sieben Tage lang, der andere nur zwei Tage, aber niemand
von ihnen wußte, welcher der kürzere Weg war. Die
zwei Wanderer setzten sich unter einen Eichenbaum und ratschlagten,
wie sie sich vorsehen und für wie viel Tage sie Brot mitnehmen
wollten. Der Schuster sagte: »Man muß weiter denken,
als man geht, ich will für sieben Tage Brot mitnehmen.«
»Was,« sagte der Schneider, »für sieben
Tage Brot auf dem Rücken schleppen wie ein Lasttier und
sich nicht umschauen? Ich halte mich an Gott und kehre mich
an nichts. Das Geld, das ich in der Tasche habe, das ist im
Sommer so gut als im Winter, aber das Brot wird in der heißen
Zeit trocken und obendrein schimmelig. Mein Rock geht auch nicht
länger als auf die Knöchel. Warum sollen wir den richtigen
Weg nicht finden? Für zwei Tage Brot und damit gut.«
Es kaufte sich also ein jeder sein Brot, dann gingen sie auf
gut Glück in den Wald hinein.
In dem Wald war es so still wie in einer Kirche. Kein Wind
wehte, kein Bach rauschte, kein Vogel sang, und durch die dichtbelaubten
Äste drang kein Sonnenstrahl. Der Schuster sprach kein
Wort, ihn drückte das schwere Brot auf dem Rücken,
daß ihm der Schweiß über sein verdrießliches
und finsteres Gesicht herabfloß. Der Schneider aber war
ganz munter, sprang daher, pfiff auf einem Blatt oder sang ein
Liedchen und dachte: »Gott im Himmel muß sich freuen,
daß ich so lustig bin.« Zwei Tage ging das so fort,
aber als am dritten Tag der Wald kein Ende nehmen wollte und
der Schneider sein Brot aufgegessen hatte, so fiel ihm das Herz
doch eine Elle tiefer herab; indessen verlor er nicht den Mut,
sondern verließ sich auf Gott und auf sein Glück.
Den dritten Tag legte er sich abends hungrig unter einen Baum
und stieg den andern Morgen hungrig wieder auf. So ging es auch
den vierten Tag, und wenn der Schuster sich auf einen umgestürzten
Baum setzte und seine Mahlzeit verzehrte, so blieb dem Schneider
nichts als das Zusehen. Bat er um ein Stückchen Brot, so
lachte der andere höhnisch und sagte: »Du bist immer
so lustig gewesen, da kannst du auch einmal versuchen, wies
tut, wenn man unlustig ist; die Vögel, die morgens zu früh
singen, die stößt abends der Habicht,« kurz,
er war ohne Barmherzigkeit. Aber am fünften Morgen konnte
der arme Schneider nicht mehr aufstehen und vor Mattigkeit kaum
ein Wort herausbringen; die Backen waren ihm weiß und
die Augen rot. Da sagte der Schuster zu ihm: »Ich will
dir heute ein Stück Brot geben, aber dafür will ich
dir dein rechtes Auge ausstechen.« Der unglückliche
Schneider, der doch gerne sein Leben erhalten wollte, konnte
sich nicht anders helfen: er weinte noch einmal mit beiden Augen
und hielt sie dann hin, und der Schuster, der ein Herz von Stein
hatte, stach ihm mit einem scharfen Messer das rechte Auge aus.
Dem Schneider kam in den Sinn, was ihm sonst seine Mutter gesagt
hatte, wenn er in der Speisekammer genascht hatte: »Essen,
soviel man mag, und leiden, was man muß.« Als er
sein teuer bezahltes Brot verzehrt hatte, machte er sich wieder
auf die Beine, vergaß sein Unglück und tröstete
sich damit, daß er mit einem Auge noch immer genug sehen
könnte. Aber am sechsten Tag meldete sich der Hunger aufs
neue und zehrte ihm fast das Herz auf. Er fiel abends bei einem
Baum nieder, und am siebenten Morgen konnte er sich vor Mattigkeit
nicht erheben, und der Tod saß ihm im Nacken. Da sagte
der Schuster: »Ich will Barmherzigkeit ausüben und
dir nochmals Brot geben; umsonst bekommst du es nicht, ich steche
dir dafür das andere Auge noch aus.« Da erkannte
der Schneider sein leichtsinniges Leben, bat den lieben Gott
um Verzeihung und sprach: »Tue, was du mußt, ich
will leiden, was ich muß; aber bedenke, daß unser
Herrgott nicht jeden Augenblick richtet, und daß eine
andere Stunde kommt, wo die böse Tat vergolten wird, die
du an mir verübst und die ich nicht an dir verdient habe.
Ich habe in guten Tagen mit dir geteilt, was ich hatte. Mein
Handwerk ist der Art, daß Stich muß Stich vertreiben.
Wenn ich keine Augen mehr habe, und nicht mehr nähen kann,
so muß ich betteln gehen. Laß mich nur, wenn ich
blind bin, hier nicht allein liegen, sonst muß ich verschmachten.«
Der Schuster aber, der Gott aus seinem Herzen vertrieben hatte,
nahm das Messer und stach ihm noch das linke Auge aus. Dann
gab er ihm ein Stück Brot zu essen, reichte ihm einen Stock
und führte ihn hinter sich her.
Als die Sonne unterging, kamen sie aus dem Wald, und vor dem
Wald auf dem Feld stand ein Galgen. Dahin leitete der Schuster
den blinden Schneider, ließ ihn dann liegen und ging seiner
Wege. Vor Müdigkeit, Schmerz und Hunger schlief der Unglückliche
ein und schlief die ganze Nacht. Als der Tag dämmerte,
erwachte er, wußte aber nicht, wo er lag. An dem Galgen
hingen zwei arme Sünder, und auf dem Kopfe eines jeden
saß eine Krähe. Da fing der eine an zu sprechen:
»Bruder, wachst du?« »Ja, ich wache,«
antwortete der zweite. »So will ich dir etwas sagen,«
fing der erste wieder an, »der Tau, der heute Nacht über
uns vom Galgen herabgefallen ist, der gibt jedem, der sich damit
wäscht, die Augen wieder. Wenn das die Blinden wüßten,
wie mancher könnte sein Gesicht wiederhaben der nicht glaubt,
daß das möglich sei.« Als der Schneider das
hörte, nahm er sein Taschentuch, drückte es auf das
Gras, und als es mit dem Tau befeuchtet war, wusch er seine
Augenhöhlen damit. Alsbald ging in Erfüllung, was
der Gehenkte gesagt hatte, und ein Paar frische und gesunde
Augen füllten die Höhlen. Es dauerte nicht lange,
so sah der Schneider die Sonne hinter den Bergen aufsteigen,
vor ihm in der Ebene lag die große Königsstadt mit
ihren prächtigen Toren und hundert Türmen, und die
goldenen Knöpfe und Kreuze, die auf den Spitzen standen,
fingen an zu glühen. Er unterschied jedes Blatt an den
Bäumen, erblickte die Vögel, die vorbeiflogen, und
die Mücken, die in der Luft tanzten. Er holte eine Nähnadel
aus der Tasche, und als er den Zwirn einfädeln konnte,
so gut, als er es je gekonnt hatte, so sprang sein Herz vor
Freude. Er warf sich auf seine Knie, dankte Gott für die
erwiesene Gnade und sprach seinen Morgensegen, er vergaß
auch nicht, für die armen Sünder zu bitten, die da
hingen wie der Schwengel in der Glocke, und die der Wind aneinander
schlug. Dann nahm er sein Bündel auf den Rücken, vergaß
bald das ausgestandene Herzeleid und ging unter Singen und Pfeifen
weiter.
Das erste, was ihm begegnete, war ein braunes Füllen,
das frei im Felde herumsprang. Er packte es an der Mähne,
wollte sich aufschwingen und in die Stadt reiten. Das Füllen
aber bat um seine Freiheit: »Ich bin noch zu jung,«
sprach es, »auch ein leichter Schneider wie du bricht
mir den Rücken entzwei, laß mich laufen, bis ich
stark geworden bin. Es kommt vielleicht eine Zeit, wo ich dirs
lohnen kann.« »Lauf hin,« sagte der Schneider,
»ich sehe, du bist auch so ein Springinsfeld.« Er
gab ihm noch einen Hieb mit der Gerte über den Rücken,
daß es vor Freude mit den Hinterbeinen ausschlug, über
Hecken und Gräben setzte und in das Feld hineinjagte.
Aber das Schneiderlein hatte seit gestern nichts gegessen.
»Die Sonne,« sprach er, »füllt mir zwar
die Augen, aber das Brot nicht den Mund. Das erste, was mir
begegnet und halbwegs genießbar ist, das muß herhalten.«
Indem schritt ein Storch ganz ernsthaft über die Wiese
daher. »Halt, halt,« rief der Schneider und packte
ihn am Bein, »ich weiß nicht, ob du zu genießen
bist, aber mein Hunger erlaubt mir keine lange Wahl, ich muß
dir den Kopf abschneiden und dich braten.« »Tue
das nicht,« antwortete der Storch, »ich bin ein
heiliger Vogel, dem niemand ein Leid zufügt, und der den
Menschen großen Nutzen bringt. Läßt du mir
mein Leben, so kann ich dirs ein andermal vergelten.«
»So zieh ab, Vetter Langbein,« sagte der Schneider.
Der Storch erhob sich, ließ die langen Beine hängen
und flog gemächlich fort.
»Was soll daraus werden?« sagte der Schneider zu
sich selbst, »mein Hunger wird immer größer
und mein Magen immer leerer. Was mir jetzt in den Weg kommt,
das ist verloren.« Indem sah er auf einem Teich ein paar
junge Enten daherschwimmen. »Ihr kommt ja wie gerufen,«
sagte er, packte eine davon, und wollte ihr den Hals umdrehen.
Da fing eine alte Ente, die in dem Schilf steckte, laut an zu
kreischen, schwamm mit aufgesperrtem Schnabel herbei und bat
ihn flehentlich, sich ihrer lieben Kinder zu erbarmen. »Denkst
du nicht,« sagte sie, »wie deine Mutter jammern
würde, wenn dich einer wegholen und dir den Garaus machen
wollte?« »Sei nur still,« sagte der gutmütige
Schneider, »du sollst deine Kinder behalten,« und
setzte die Gefangene wieder ins Wasser.
Als er sich umkehrte, stand er vor einem alten Baum, der halb
hohl war, und sah die wilden Bienen aus- und einfliegen. »Da
finde ich gleich den Lohn für meine gute Tat,« sagte
der Schneider, »der Honig wird mich laben.« Aber
der Weisel kam heraus, drohte und sprach: »Wenn du mein
Volk anrührst und mein Nest zerstörst, so sollen dir
unsere Stacheln wie zehntausend glühende Nadeln in die
Haut fahren. Läßt du uns aber in Ruhe und gehst deiner
Wege, so wollen wir dir ein andermal dafür einen Dienst
leisten.«
Das Schneiderlein sah, daß auch hier nichts anzufangen
war. »Drei Schüsseln leer,« sagte er, »und
auf der vierten nichts, das ist eine schlechte Mahlzeit.«
Er schleppte sich also mit seinem ausgehungerten Magen in die
Stadt, und da es eben zu Mittag läutete, so war für
ihn im Gasthaus schon gekocht, und er konnte sich gleich zu
Tisch setzen. Als er satt war, sagte er: »Nun will ich
auch arbeiten.« Er ging in der Stadt umher, suchte einen
Meister und fand auch bald ein gutes Unterkommen. Da er aber
sein Handwerk von Grund aus gelernt hatte, so dauerte es nicht
lange, er ward berühmt, und jeder wollte seinen neuen Rock
von dem kleinen Schneider gemacht haben. Alle Tage nahm sein
Ansehen zu. »Ich kann in meiner Kunst nicht weiterkommen,«
sprach er, »und doch gehts jeden Tag besser.« Endlich
bestellte ihn der König zu seinem Hofschneider.
Aber wie's in der Welt geht: an demselben Tag war sein ehemaliger
Kamerad, der Schuster, auch Hofschuster geworden. Als dieser
den Schneider erblickte und sah, daß er wieder zwei gesunde
Augen hatte, so peinigte ihn das Gewissen. »Ehe er Rache
an mir nimmt,« dachte er bei sich selbst, »muß
ich ihm eine Grube graben.« Wer aber andern eine Grube
gräbt, fällt selbst hinein. Abends, als er Feierabend
gemacht hatte und es dämmerig geworden war, schlich er
sich zu dem König und sagte: »Herr König, der
Schneider ist ein übermütiger Mensch und hat sich
vermessen, er wollte die goldene Krone wieder herbeischaffen,
die vor alten Zeiten ist verloren gegangen.« »Das
sollte mir lieb sein,« sprach der König, ließ
den Schneider am andern Morgen vor sich fordern und befahl ihm,
die Krone wieder herbeizuschaffen, oder für immer die Stadt
zu verlassen. »Oho,« dachte der Schneider, »ein
Schelm gibt mehr, als er hat. Wenn der murrköpfige König
von mir verlangt, was kein Mensch leisten kann, so will ich
nicht warten bis morgen, sondern gleich heute wieder zur Stadt
hinauswandern.« Er schnürte also sein Bündel,
als er aber aus dem Tor heraus war, so tat es ihm doch leid,
daß er sein Glück aufgegeben und die Stadt, in der
es ihm so wohl gegangen war, mit dem Rücken ansehen sollte.
Er kam zu dem Teich, wo er mit den Enten Bekanntschaft gemacht
hatte, da saß gerade die Alte, der er ihre Jungen gelassen
hatte, am Ufer und putzte sich mit dem Schnabel. Sie erkannte
ihn gleich und fragte, warum er den Kopf so hängen lasse.
»Du wirst dich nicht wundern, wenn du hörst, was
mir begegnet ist,« antwortete der Schneider und erzählte
ihr sein Schicksal. »Wenns weiter nichts ist,« sagte
die Ente, »da können wir Rat schaffen. Die Krone
ist ins Wasser gefallen und liegt unten auf dem Grund, wie bald
haben wir sie wieder heraufgeholt. Breite nur derweil dein Taschentuch
ans Ufer aus.« Sie tauchte mit ihren zwölf Jungen
unter , und nach fünf Minuten war sie wieder oben und saß
mitten in der Krone, die auf ihren Fittichen ruhte, und die
zwölf Jungen schwammen rund herum, hatten ihre Schnäbel
untergelegt und halfen tragen. Sie schwammen ans Land und legten
die Krone auf das Tuch. Du glaubst nicht, wie prächtig
die Krone war, wenn die Sonne darauf schien, so glänzte
sie wie hunderttausend Karfunkelsteine. Der Schneider band sein
Tuch mit den vier Zipfeln zusammen und trug sie zum König,
der in einer Freude war und dem Schneider eine goldene Kette
um den Hals hing.
Als der Schuster sah, daß der eine Streich mißlungen
war, so besann er sich auf einen zweiten, trat vor den König
und sprach: »Herr König, der Schneider ist wieder
so übermütig geworden, er vermißt sich, das
ganze königliche Schloß mit allem, was darin ist,
los und fest, innen und außen, in Wachs abzubilden.«
Der König ließ den Schneider kommen und befahl ihm,
das ganze königliche Schloß mit allem, was darin
wäre, los und fest, innen und außen, in Wachs abzubilden,
und wenn er es nicht zustande brächte, oder es fehlte nur
ein Nagel an der Wand, so sollte er zeitlebens unter der Erde
gefangen sitzen. Der Schneider dachte: »Es kommt immer
ärger, das hält kein Mensch aus,« warf sein
Bündel auf den Rücken und wanderte fort. Als er an
den hohlen Baum kam, setzte er sich nieder und ließ den
Kopf hängen. Die Bienen kamen herausgeflogen, und der Weisel
fragte ihn, ob er einen steifen Hals hätte, weil er den
Kopf so schief hielt. »Ach nein,« antwortete der
Schneider, »mich drückt etwas anderes.« Und
erzählte, was der König von ihm gefordert hatte. Die
Bienen fingen an untereinander zu summen und zu brummen, und
der Weisel sprach: »Geh nur wieder nach Haus, komm aber
morgen um diese Zeit wieder und bring ein großes Tuch
mit, so wird alles gut gehen.« Da kehrte er wieder um,
die Bienen aber flogen nach dem königlichen Schloß
geradezu in die offenen Fenster hinein, krochen in allen Ecken
herum und besahen alles aufs genaueste. Dann liefen sie zurück
und bildeten das Schloß in Wachs nach mit einer solchen
Geschwindigkeit, daß man meinte, es wüchse einem
vor den Augen. Schon am Abend war alles fertig, und als der
Schneider am folgenden Morgen kam, so stand das ganze prächtige
Gebäude da, und es fehlte kein Nagel an der Wand und kein
Ziegel auf dem Dach; dabei war es zart und schneeweiß,
und roch süß wie Honig. Der Schneider packte es vorsichtig
in sein Tuch und brachte es dem König, der aber konnte
sich nicht genug verwundern, stellte es in seinem größten
Saal auf und schenkte dem Schneider dafür ein großes
steinernes Haus.
Der Schuster ab ließ nicht nach, ging zum drittenmal
zu dem König und sprach: »Herr König, dem Schneider
ist zu Ohren gekommen, daß auf dem Schloßhof kein
Wasser springen will, da hat er sich vermessen, es solle mitten
im Hof mannshoch aufsteigen und hell sein wie Kristall.«
Da ließ der König den Schneider herbeiholen und sagte:
»Wenn nicht morgen ein Strahl von Wasser in meinem Hof
springt, wie du versprochen hast, so soll dich der Scharfrichter
auf demselben Hof um einen Kopf kürzer machen.« Der
arme Schneider besann sich nicht lange und eilte zum Tore hinaus,
und weil es ihm diesmal ans Leben gehen sollte, so rollten ihm
die Tränen über die Backen herab. Indem er so voll
Trauer dahinging, kam das Füllen herangesprungen, dem er
einmal die Freiheit geschenkt hatte, und aus dem ein hübscher
Brauner geworden war. »Jetzt kommt die Stunde« sprach
er zu ihm, »wo ich dir deine Guttat vergelten kann. Ich
weiß schon, was dir fehlt, aber es soll dir bald geholfen
werden, sitz nur auf, mein Rücken kann deiner zwei tragen.«
Dem Schneider kam das Herz wieder, er sprang in einem Satz auf,
und das Pferd rennte in vollem Lauf zur Stadt hinein und geradezu
auf den Schloßhof. Da jagte es dreimal rund herum, schnell
wie der Blitz, und beim drittenmal stürzte es nieder. In
dem Augenblick aber krachte es furchtbar: ein Stück Erde
sprang in der Mitte des Hofs wie eine Kugel in die Luft und
über das Schloß hinaus, und gleich dahinterher erhob
sich ein Strahl von Wasser so hoch wie Mann und Pferd, und das
Wasser war so rein wie Kristall, und die Sonnenstrahlen fingen
an darauf zu tanzen. Als der König das sah, stand er vor
Verwunderung auf, ging und umarmte das Schneiderlein im Angesicht
aller Menschen.
Aber das Glück dauerte nicht lange. Der König hatte
Töchter genug, eine immer schöner als die andere,
aber keinen Sohn. Da begab sich der boshafte Schuster zum viertenmal
zu dem Könige und sprach: »Herr König, der Schneider
läßt nicht ab von seinem Üermut. Jetzt hat er
sich vermessen, wenn er wolle, so könne er dem Herrn König
einen Sohn durch die Lüfte herbeitragen lassen.«
Der König ließ den Schneider rufen und sprach: »Wenn
du mir binnen neun Tagen einen Sohn bringen läßt,
so sollst du meine äIteste Tochter zur Frau haben.«
»Der Lohn ist freilich groß,« dachte das Schneiderlein,
»da täte man wohl ein übriges, aber die Kirschen
hängen mir zu hoch: wenn ich danach steige, so bricht unter
mir der Ast, und ich falle herab.« Er ging nach Haus,
setzte sich mit unterschlagenen Beinen auf seinen Arbeitstisch
und bedachte sich, was zu tun wäre. »Es geht nicht,«
rief er endlich aus, »ich will fort, hier kann ich doch
nicht in Ruhe leben.« Er schnürte sein Bündel
und eilte zum Tore hinaus. Als er auf die Wiesen kam, erblickte
er seinen alten Freund, den Storch, der da wie ein Weltweiser
auf- und abging, zuweilen still stand, einen Frosch in nähere
Betrachtung nahm und ihn endlich verschluckte. Der Storch kam
heran und begrüßte ihn. »Ich sehe,« hub
er an, »du hast deinen Ranzen auf dem Rücken, warum
willst du die Stadt verlassen?« Der Schneider erzählte
ihm, was der König von ihm verlangt hatte und er nicht
erfüllen konnte, und jammerte über sein Mißgeschick.
»Laß dir darüber keine grauen Haare wachsen,«
sagte der Storch, »ich will dir aus der Not helfen. Schon
lange bringe ich die Wickelkinder in die Stadt, da kann ich
auch einmal einen kleinen Prinzen aus dem Brunnen holen. Geh
heim und verhalte dich ruhig. Heut über neun Tage begib
dich in das königliche Schloß, da will ich kommen.«
Das Schneiderlein ging nach Haus und war zu rechter Zeit in
dem Schloß. Nicht lange, so kam der Storch herangeflogen
und klopfte ans Fenster. Der Schneider öffnete ihm, und
Vetter Langbein stieg vorsichtig herein und ging mit gravitätischen
Schritten über den glatten Marmorboden; er hatte aber ein
Kind im Schnabel, das schön wie ein Engel, und seine Händchen
nach der Königin ausstreckte. Er legte es ihr auf den Schoß,
und sie herzte und küßte es, und war vor Freude außer
sich. Der Storch nahm, bevor er wieder wegflog, seine Reisetasche
von der Schulter herab und überreichte sie der Königin.
Es steckten Tüten darin mit bunten Zuckererbsen, sie wurden
unter die kleinen Prinzessinnen verteilt, Die äIteste aber
erhielt nichts, sondern bekam den lustigen Schneider zum Mann.
»Es ist mir geradeso,« sprach der Schneider, »als
wenn ich das große Los gewonnen hätte. Meine Mutter
hatte doch recht, die sagte immer, wer auf Gott vertraut und
nur Glück hat, dem kanns nicht fehlen.«
Der Schuster mußte die Schuhe machen, in welchen das
Schneiderlein auf dem Hochzeitfest tanzte, hernach ward ihm
befohlen, die Stadt auf immer zu verlassen. Der Weg nach dem
Wald führte ihn zu dem Galgen. Von Zorn, Wut und der Hitze
des Tages ermüdet, warf er sich nieder. Als er die Augen
zumachte und schlafen wollte, stürzten die beiden Krähen
von den Köpfen der Gehenkten mit lautem Geschrei herab
und hackten ihm die Augen aus. Unsinnig rannte er in den Wald
und muß darin verschmachtet sein, denn es hat ihn niemand
wieder gesehen oder etwas von ihm gehört.
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