Hans Christian Andersen
Däumelinchen
Es war einmal eine Frau, die sich sehr nach
einem kleinen Kinde sehnte, aber sie wußte nicht, woher
sie es nehmen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte
zu ihr: »Ich möchte herzlich gern ein kleines Kind
haben, willst du mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?«
»Ja, damit wollen wir schon fertig werden!« sagte
die Hexe. »Da hast du ein Gerstenkorn; das ist gar nicht
von der Art, wie sie auf dem Felde des Landmanns wachsen oder
wie sie die Hühner zu fressen bekommen; lege das in einen
Blumentopf, so wirst du etwas zu sehen bekommen!«
»Ich danke dir!« sagte die Frau und gab der Hexe
fünf Groschen, ging dann nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn,
und sogleich wuchs da eine herrliche, große Blume; sie
sah aus wie eine Tulpe, aber die Blätter schlossen sich
fest zusammen, gerade als ob sie noch in der Knospe wären.
»Das ist eine niedliche Blume!« sagte die Frau
und küßte sie auf die roten und gelben Blätter,
aber gerade wie sie darauf küßte, öffnete sich
die Blume mit einem Knall. Es war eine wirkliche Tulpe, wie
man nun sehen konnte, aber mitten in der Blume saß auf
dem grünen Samengriffel ein ganz kleines Mädchen,
fein und niedlich, es war nicht über einen Daumen breit
und lang, deswegen wurde es Däumelinchen genannt.
Eine niedliche, lackierte Walnußschale bekam Däumelinchen
zur Wiege, Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein
Rosenblatt ihr Deckbett. Da schlief sie bei Nacht, aber am Tage
spielte sie auf dem Tisch, wo die Frau einen Teller hingestellt,
um den sie einen ganzen Kranz von Blumen gelegt hatte, deren
Stengel im Wasser standen. Hier schwamm ein großes Tulpenblatt,
und auf diesem konnte Däumelinchen sitzen und von der einen
Seite des Tellers nach der anderen fahren; sie hatte zwei weiße
Pferdehaare zum Rudern. Das sah ganz allerliebst aus. Sie konnte
auch singen, und so fein und niedlich, wie man es nie gehört
hatte.
Einmal nachts, als sie in ihrem schönen Bette lag, kam
eine Kröte durch eine zerbrochene Scheibe des Fensters
hereingehüpft. Die Kröte war häßlich, groß
und naß, sie hüpfte gerade auf den Tisch herunter,
auf dem Däumelinchen lag und unter dem roten Rosenblatt
schlief.
»Das wäre eine schöne Frau für meinen
Sohn!« sagte die Kröte, und da nahm sie die Walnußschale,
worin Däumelinchen schlief, und hüpfte mit ihr durch
die zerbrochene Scheibe fort, in den Garten hinunter.
Da floß ein großer, breiter Fluß; aber gerade
am Ufer war es sumpfig und morastig; hier wohnte die Kröte
mit ihrem Sohne. Hu, der war häßlich und garstig
und glich ganz seiner Mutter. »Koax, koax, brekkerekekex!«
Das war alles, was er sagen konnte, als er das niedliche kleine
Mädchen in der Walnußschale erblickte.
»Sprich nicht so laut, denn sonst erwacht sie!«
sagte die alte Kröte. »Sie könnte uns noch entlaufen,
denn sie ist so leicht wie ein Schwanenflaum! Wir wollen sie
auf eins der breiten Seerosenblätter in den Fluß
hinaussetzen, das ist für sie, die so leicht und klein
ist, gerade wie eine Insel; da kann sie nicht davonlaufen, während
wir die Staatsstube unten unter dem Morast, wo ihr wohnen und
hausen sollt, instand setzen.«
Draußen in dem Flusse wuchsen viele Seerosen mit den
breiten, grünen Blättern, die aussehen, als schwämmen
sie oben auf dem Wasser. Das am weitesten hinausliegende Blatt
war auch das allergrößte; dahin schwamm die alte
Kröte und setzte die Walnußschale mit Däumelinchen
darauf.
Das kleine Wesen erwachte frühmorgens, und da es sah,
wo es war, fing es recht bitterlich an zu weinen; denn es war
Wasser zu allen Seiten des großen, grünen Blattes,
und es konnte gar nicht an Land kommen.
Die alte Kröte saß unten im Morast und putzte ihre
Stube mit Schilf und gelben Blumen aus - es sollte da recht
hübsch für die neue Schwiegertochter werden. Dann
schwamm sie mit dem häßlichen Sohne zu dem Blatte,
wo Däumelinchen stand. Sie wollten ihr hübsches Bett
holen, das sollte in das Brautgemach gestellt werden, bevor
sie es selbst betrat. Die alte Kröte verneigte sich tief
im Wasser vor ihr und sagte: »Hier siehst du meinen Sohn;
er wird dein Mann sein, und ihr werdet recht prächtig unten
im Morast wohnen!«
»Koax, koax, brekkerekekex!« war alles, was der
Sohn sagen konnte.
Dann nahmen sie das niedliche, kleine Bett und schwammen damit
fort; aber Däumelinchen saß ganz allein und weinte
auf dem grünen Blatte, denn sie mochte nicht bei der garstigen
Kröte wohnen oder ihren häßlichen Sohn zum Manne
haben. Die kleinen Fische, die unten im Wasser schwammen, hatten
die Kröte wohl gesehen, und sie hatten auch gehört,
was sie gesagt hatte; deshalb streckten sie die Köpfe hervor,
sie wollten doch das kleine Mädchen sehen. Sie fanden es
sehr niedlich und bedauerten, daß es zur häßlichen
Kröte hinunter sollte. Nein, das durfte nie geschehen!
Sie versammelten sich unten im Wasser rings um den grünen
Stengel, der das Blatt hielt, nagten mit den Zähnen den
Stiel ab, und da schwamm das Blatt den Fluß hinab mit
Däumelinchen davon, weit weg, wo die Kröte sie nicht
erreichen konnte.
Däumelinchen segelte an vielen Städten vorbei, und
die kleinen Vögel saßen in den Büschen, sahen
sie und sangen: »Welch liebliches, kleines Mädchen!«
Das Blatt schwamm mit ihr immer weiter und weiter fort; so reiste
Däumelinchen außer Landes.
Ein niedlicher, weißer Schmetterling umflatterte sie
stets und ließ sich zuletzt auf das Blatt nieder, denn
Däumelinchen gefiel ihm. Sie war sehr erfreut; denn nun
konnte die Kröte sie nicht erreichen, und es war so schön,
wo sie fuhr; die Sonne schien aufs Wasser, das wie lauteres
Gold glänzte. Sie nahm ihren Gürtel, band das eine
Ende um den Schmetterling, das andere Ende des Bandes befestigte
sie am Blatte; das glitt nun viel schneller davon und sie mit,
denn sie stand ja darauf.
Da kam ein großer Maikäfer angeflogen, der erblickte
sie, schlug augenblicklich seine Klauen um ihren schlanken Leib
und flog mit ihr auf einen Baum. Das grüne Blatt schwamm
den Fluß hinab und der Schmetterling mit, denn er war
an das Blatt gebunden und konnte nicht loskommen.
Wie war das arme Däumelinchen erschrocken, als der Maikäfer
mit ihr auf den Baum flog! Aber hauptsächlich war sie des
schönen, weißen Schmetterlings wegen betrübt,
den sie an das Blatt festgebunden hatte. Wenn er sich nicht
befreien konnte, mußte er ja verhungern! Darum kümmerte
sich der Maikäfer nicht. Fr setzte sich mit ihr auf das
größte grüne Blatt des Baumes, gab ihr das Süße
der Blumen zu essen und sagte, daß sie niedlich sei, obgleich
sie einem Maikäfer durchaus nicht gleiche. Später
kamen alle die anderen Maikäfer, die im Baume wohnten,
und besuchten sie; sie betrachteten Däumelinchen, und die
Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner
und sagten: »Sie hat doch nicht mehr als zwei Beine; das
sieht erbärmlich aus.« - »Sie hat keine Fühlhörner!«
sagte eine andere. »Sie ist so schlank in der Mitte; pfui,
sie sieht wie ein Mensch aus! Wie häßlich sie ist!«
sagten alle Maikäferinnen, und doch war Däumelinchen
so niedlich. Das erkannte auch der Maikäfer, der sie geraubt
hatte, aber als alle anderen sagten, sie sei häßlich,
so glaubte er es zuletzt auch und wollte sie gar nicht haben;
sie konnte gehen, wohin sie wollte. Sie flogen mit ihr den Baum
hinab und setzten sie auf ein Gänseblümchen; da weinte
sie, weil sie so häßlich sei, daß die Maikäfer
sie nicht haben wollten, und doch war sie das Lieblichste, das
man sich denken konnte, so fein und klar wie das schönste
Rosenblatt.
Den ganzen Sommer über lebte das arme Däumelinchen
ganz allein in dem großen Walde. Sie flocht sich ein Bett
aus Grashalmen und hing es unter einem Klettenblatte auf, so
war sie vor dem Regen geschätzt, sie pflückte das
Süße der Blumen zur Speise und trank vom Tau, der
jeden Morgen auf den Blättern lag. So vergingen Sommer
und Herbst. Aber nun kam der Winter, der kalte, lange Winter.
Alle Vögel, die so schön vor ihr gesungen hatten,
flogen davon, Bäume und Blumen verdorrten; das große
Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen,
und es blieb nichts als ein gelber, verwelkter Stengel zurück.
Däumelinchen fror schrecklich, denn ihre Kleider waren
entzwei, und sie war selbst so fein und klein, sie mußte
erfrieren. Es fing an zu schneien, und jede Schneeflocke, die
auf sie fiel, war, als wenn man auf uns eine ganze Schaufel
voll wirft, denn wir sind groß, und sie war nur einen
halben Finger lang. Da hüllte sie sich in ein verdorrtes
Blatt ein, aber das wollte nicht wärmen; sie zitterte vor
Kälte.
Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes
Kornfeld. Das Korn war schon lange abgeschnitten, nur die nackten,
trockenen Stoppeln standen aus der gefrorenen Erde hervor. Sie
waren gerade wie ein ganzer Wald für sie zu durchwandern,
und sie zitterte vor Kälte! Da gelangte sie vor die Tür
der Feldmaus, die ein kleines Loch unter den Kornstoppeln hatte.
Da wohnte die Feldmaus warm und gut, hatte die ganze Stube voll
Korn, eine herrliche Küche und Speisekammer. Das arme Däumelinchen
stellte sich in die Tür, gerade wie jedes andere arme Bettelmädchen,
und bat um ein kleines Stück von einem Gerstenkorn, denn
sie hatte seit zwei Tagen nicht das mindeste zu essen gehabt.
»Du kleines Wesen!« sagte die Feldmaus, denn im
Grunde war es eine gute alte Feldmaus, »komm herein in
meine warme Stube und iß mit mir!«
Da ihr nun Däumelinchen gefiel, sagte sie: »Du kannst
den Winter über bei mir bleiben, aber du mußt meine
Stube sauber und rein halten und mir Geschichten erzählen,
denn die liebe ich sehr.« Däumelinchen tat, was die
gute alte Feldmaus verlangte, und hatte es über die lange
Winterzeit hinweg außerordentlich gut.
»Nun werden wir bald Besuch erhalten!« sagte die
Feldmaus. »Mein Nachbar pflegt mich wöchentlich einmal
zu besuchen. Er steht sich noch besser als ich, hat große
Säle und trägt einen schönen, schwarzen Samtpelz!
Wenn du den zum Manne bekommen könntest, so wärest
du gut versorgt; aber er kann nicht sehen. Du mußt ihm,
wenn er unser Gast ist, die niedlichsten Geschichten erzählen,
die du weißt!«
Aber darum kümmerte sich Däumelinchen nicht, sie
mochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war ein Maulwurf.
Er kam und stattete den Besuch in seinem schwarzen Samtpelz
ab. Er sei reich und gelehrt, sägte die Feldmaus; seine
Wohnung war auch zwanzigmal größer als die der Feldmaus.
Gelehrsamkeit besaß er, aber die Sonne und die schönen
Blumen mochte er gar nicht leiden, von beiden sprach er schlecht,
denn er hatte sie noch nie gesehen.
Däumelinchen mußte singen, und sie sang:
»Maikäfer flieg!«
und: »Wer will unter die Soldaten«.
Da wurde der Maulwurf der schönen Stimme wegen in sie
verliebt, aber er sagte nichts, er war ein besonnener Mann.
Er hatte sich vor kurzem einen langen Gang durch die Erde von
seinem bis zu ihrem Hause gegraben; in diesem erhielten die
Feldmaus und Däumelinchen die Erlaubnis, zu spazieren,
soviel sie wollten. Aber er bat sie, sich nicht vor dem toten
Vogel zu fürchten, der in dem Gange liege. Es war ein ganzer
Vogel mit Federn und Schnabel, der sicher erst kürzlich
gestorben und nun begraben war, gerade da, wo er seinen Gang
gemacht hatte.
Der Maulwurf nahm nun ein Stück faules Holz ins Maul,
denn das schimmert ja wie Feuer im Dunkeln, ging voran und leuchtete
ihnen in dem langen, dunklen Gange. Als sie dahin kamen, wo
der tote Vogel lag, stemmte der Maulwurf seine breite Nase gegen
die Decke und stieß die Erde auf, so daß es ein
großes Loch gab und das Licht hindurchscheinen konnte.
Mitten auf dem Fußboden lag eine tote Schwalbe, die schönen
Flügel fest an die Seite gedrückt, die Füße
und den Kopf unter die Federn gezogen; der arme Vogel war sicher
vor Kälte gestorben. Das tat Däumelinchen leid, sie
hielt viel von allen kleinen Vögeln, sie hatten ja den
ganzen Sommer so schön vor ihr gesungen und gezwitschert.
Aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen und
sagte: »Nun pfeift er nicht mehr! Es muß doch erbärmlich
sein, als kleiner Vogel geboren zu werden! Gott sei Dank, daß
keins von meinen Kindern das wird; ein solcher Vogel hat ja
außer seinem Quivit nichts und muß im Winter verhungern!«
»Ja, das mögt Ihr als vernünftiger Mann wohl
sagen«, erwiderte die Feldmaus. »Was hat der Vogel
für all sein Quivit, wenn der Winter kommt? Er muß
hungern und frieren; doch das soll wohl ganz besonders vornehm
sein!«
Däumelinchen sagte gar nichts; aber als die beiden andern
dem Vogel den Rücken wandten, neigte sie sich herab, schob
die Federn beiseite, die den Kopf bedeckten, und küßte
ihn auf die geschlossenen Augen.
'Vielleicht war er es, der so hübsch vor mir im Sommer
sang', dachte sie. 'Wieviel Freude hat er mir nicht gemacht,
der liebe, schöne Vogel'
Der Maulwurf stopfte nun das Loch zu, durch das der Tag hereinschien,
und begleitete dann die Damen nach Hause. Aber nachts konnte
Däumelinchen gar nicht schlafen. Da stand sie von ihrem
Bette auf und flocht von Heu einen großen, schönen
Teppich. Den trug sie zu dem Vogel, breitete ihn über ihn
und legte weiche Baumwolle, die sie in der Stube der Feldmaus
gefunden hatte, an seine Seiten, damit er in der kalten Erde
warm liegen möge.
»Lebe wohl, du schöner, kleiner Vogel!« sagte
sie. »Lebe wohl und habe Dank für deinen herrlichen
Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die
Sonne warm auf uns herabschien!« Dann legte sie ihr Haupt
an des Vogels Brust, erschrak aber zugleich, denn es war gerade,
als ob drinnen etwas klopfte. Das war des Vogels Herz. Der Vogel
war nicht tot, er lag nur betäubt da, war nun erwärmt
worden und bekam wieder Leben.
Im Herbst fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern
fort; aber ist da eine, die sich verspätet, so friert sie
so, daß sie wie tot niederfällt und liegen bleibt,
wo sie hinfällt. Und der kalte Schnee bedeckt sie.
Däumelinchen zitterte heftig, so war sie erschrocken,
denn der Vogel war ja groß, sehr groß gegen sie;
aber sie faßte doch Mut, legte die Baumwolle dichter um
die arme Schwalbe und holte ein Krauseminzeblatt, das sie selbst
zum Deckblatt gehabt hatte, und legte es ganz behutsam über
den Kopf des Vogels.
In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm,
und da war er nun lebendig, aber ganz matt. Er konnte nur einen
Augenblick seine Augen öffnen und Däumelinchen ansehen,
die mit einem Stück faulen Holzes in der Hand, denn eine
andere Laterne hatte sie nicht, vor ihm stand.
»Ich danke dir, du niedliches, kleines Kind!« sagte
die kranke Schwalbe zu ihr. »Ich bin herrlich erwärmt
worden; bald erhalte ich meine Kräfte zurück und kann
dann wieder draußen in dem warmen Sonnenschein herumfliegen!«
»Oh«, sagte Däumelinchen, »es ist kalt
draußen, es schneit und friert! Bleib in deinem warmen
Bette, ich werde dich schon pflegen!«
Dann brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt,
und diese trank und erzählte ihr, wie sie ihren einen Flügel
an einem Dornbusch gerissen und deshalb nicht so schnell habe
fliegen können wie die andern Schwalben, die fortgezogen
seien, weit fort nach den warmen Ländern. So sei sie zuletzt
zur Erde gef allen. Mehr wußte sie nicht, und auch nicht,
wie sie hierhergekommen war.
Den ganzen Winter blieb sie nun da unten, Däumelinchen
pflegte sie und hatte sie lieb, weder der Maulwurf noch die
Feldmaus erfuhren etwas davon, denn sie mochten die arme Schwalbe
nicht leiden.
Sobald das Frühjahr kam und die Sonne die Erde erwärmte,
sagte die Schwalbe Däumelinchen, die das Loch öffnete,
das der Maulwurf oben gemacht hatte, Lebewohl. Die Sonne schien
herrlich zu ihnen herein, und die Schwalbe fragte, ob sie mitkommen
wolle, sie könnte auf ihrem Rücken sitzen, sie wollten
weit in den grünen Wald hineinfliegen. Aber Däumelinchen
wußte, daß es die alte Feldmaus betrüben würde,
wenn sie sie verließ.
»Nein, ich kann nicht!« sagte Däumelinchen.
»Lebe wohl, lebe wohl, du gutes, niedliches Mädchen!«
sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelinchen
sah ihr nach, und das Wasser trat ihr in die Augen, denn sie
war der armen Schwalbe von Herzen gut.
»Quivit, quivit!« sang der Vogel und flog in den
grünen Wald. Däumelinchen war recht betrübt.
Sie erhielt gar keine Erlaubnis, in den warmen Sonnenschein
hinauszugehen. Das Korn, das auf dem Felde über dem Hause
der Feldmaus gesät war, wuchs auch hoch in die Luft empor;
das war ein ganz dichter Wald für das arme, kleine Mädchen.
»Nun sollst du im Sommer deine Aussteuer nähen!«
sagte die Feldmaus zu ihr; denn der Nachbar, der langweilige
Maulwurf in dem schwarzen Samtpelze, hatte um sie gefreit. »Du
mußt sowohl Wollen- wie Leinenzeug haben, denn es darf
dir an nichts fehlen, wenn du des Maulwurfs Frau wirst!«
Däumelinchen mußte auf der Spindel spinnen, und
die Feldmaus mietete vier Raupen, die Tag und Nacht für
sie webten. Jeden Abend besuchte sie der Maulwurf und sprach
dann immer davon, daß, wenn der Sommer zu Ende gehe, die
Sonne lange nicht so warm scheinen werde, sie brenne da jetzt
die Erde fest wie einen Stein; ja, wenn der Sommer vorbei sei,
dann wolle er mit Däumelinchen Hochzeit halten. Aber sie
war gar nicht erfreut darüber, denn sie mochte den langweiligen
Maulwurf nicht leiden. jeden Morgen, wenn die Sonne aufging,
und jeden Abend, wenn sie unterging, stahl sie sich zur Tür
hinaus, und wenn dann der Wind die Kornähren trennte, so
daß sie den blauen Himmel erblicken konnte, dachte sie
daran, wie hell und schön es hier draußen sei, und
wünschte sehnlichste die liebe Schwalbe wiederzusehen.
Aber die kam nicht wieder; sie war gewiß weit weg in
den schönen grünen Wald gezogen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze
Aussteuer fertig.
»In vier Wochen sollst du Hochzeit halten!« sagte
die Feldmaus. Aber Däumelinchen weinte und sagte, sie wolle
den langweiligen Maulwurf nicht haben.
»Schnickschnack!« sagte die Feldmaus. »Werde
nicht widerspenstig, denn sonst werde ich dich mit meinen weißen
Zähnen beißen! Es ist ja ein schöner Mann, den
du bekommst, und das darfst du nicht vergessen. Die Königin
selbst hat keinen solchen schwarzen Samtpelz! Er hat Küche
und Keller voll. Danke du Gott für ihn!«
Nun sollten sie Hochzeit haben. Der Maulwurf war schon gekommen,
Däumelinchen zu holen; sie sollte bei ihm wohnen, tief
unter der Erde, nie an die warme Sonne herauskommen, denn die
mochte er nicht leiden. Das arme Kind war sehr betrübt;
sie sollte nun der schönen Sonne Lebewohl sagen, die sie
doch bei der Feldmaus hatte von der Türe aus sehen dürfen.
»Lebe wohl, du helle Sonne!« sagte sie, streckte
die Arme hoch empor und ging auch eine kleine Strecke weiter
vor dem Hause der Feldmaus; denn nun war das Korn geerntet,
und hier standen nur die trockenen Stoppeln. »Lebe wohl,
lebe wohl!« sagte sie und schlang ihre Arme um eine kleine
rote Blume, die da stand. »Grüße die kleine
Schwalbe von mir, wenn du sie zu sehen bekommst!«
»Quivit, quivit!« ertönte es plötzlich
über ihrem Kopfe, sie sah empor, es war die kleine Schwalbe,
die gerade vorbeikam. Sobald sie Däumelinchen erblickte,
wurde sie sehr erfreut; diese erzählte ihr, wie ungern
sie den häßlichen Maulwurf zum Manne haben wolle
und daß sie dann tief unter der Erde wohnen solle, wo
nie die Sonne scheine. Sie konnte sich nicht enthalten, dabei
zu weinen.
»Nun kommt der kalte Winter«, sagte die kleine
Schwalbe; » ich fliege weit fort nach den warmen Ländern,
willst du mit mir kommen? Du kannst auf meinem Rücken sitzen!
Binde dich nur mit deinem Gürtel fest, dann fliegen wir
von dem häßlichen Maulwurf und seiner dunkeln Stube
fort, weit über die Berge, nach den warmen Ländern,
wo die Sonne schöner scheint als hier, wo es immer Sommer
ist und herrliche Blumen gibt. Fliege nur mit, du liebes, kleines
Däumelinchen, die mein Leben gerettet hat, als ich wie
tot in dem dunkeln Erdkeller lag!«
»Ja, ich werde mit dir kommen!« sagte Däumelinchen
und setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßen
auf seinen entfalteten Schwingen. Sie band ihren Gürtel
an einer der stärksten Federn fest, und da flog die Schwalbe
hoch in die Luft hinauf, über Wald und über See, hoch
über die großen Berge, wo immer Schnee liegt. Däumelinchen
fror in der kalten Luft, aber darin verkroch sie sich unter
des Vogels warme Federn und streckte nur den kleinen Kopf hervor,
um all die Schönheiten unter sich zu bewundern.
Da kamen sie denn nach den warmen Ländern. Dort schien
die Sonne weit klarer als hier, der Himmel war zweimal so hoch,
und an Gräben und Hecken wuchsen die schönsten grünen
und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen
und Apfelsinen, hier duftete es von Myrten und Krauseminze,
auf den Landstraßen liefen die niedlichsten Kinder und
spielten mit großen, bunten Schmetterlingen. Aber die
Schwalbe flog noch weiter fort, und es wurde schöner und
schöner. Unter den herrlichsten grünen Bäumen
an dem blauen See stand ein blendend weißes Marmorschloß
aus alten Zeiten. Weinreben rankten sich um die hohen Säulen
empor; ganz oben waren viele Schwalbennester, und in einem wohnte
die Schwalbe, die Däumelinchen trug.
»Hier ist mein Haus!« sagte die Schwalbe. »Aber
willst du dir nun selbst eine der prächtigsten Blumen,
die da unten wachsen, aussuchen, dann will ich dich hineinsetzen,
und du sollst es so gut und schön haben, wie du es nur
wünschest!«
»Das ist herrlich!« sagte Däumelinchen und
klatschte erfreut in die kleinen Hände.
Da lag eine große, weiße Marmorsäule, die
zu Boden gefallen und in drei Stücke gesprungen war, aber
zwischen diesen wuchsen die schönsten großen, weißen
Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunter und
setzte sie auf eins der breiten Blätter. Aber wie erstaunte
diese! Da saß ein kleiner Mann mitten in der Blume, so
weiß und durchsichtig, als wäre er von Glas; die
niedlichste Goldkrone trug er auf dem Kopfe und die herrlichsten,
klaren Flügel an den Schultern, er selbst war nicht größer
als Däumelinchen. Es war der Blumenelf. In jeder Blume
wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, aber dieser war der
König - über alle.
»Gott, wie ist er schön!« flüsterte Däumelinchen
der Schwalbe zu. Der kleine Prinz erschrak sehr über die
Schwalbe, denn sie war gegen ihn, der so klein und fein war,
ein Riesenvogel; aber als er Däumelinchen erblickte, wurde
er hocherfreut; sie war das schönste Mädchen, das
er je gesehen hatte. Deswegen nahm er seine Goldkrone vom Haupte
und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie heiße und ob sie
seine Frau werden wolle, dann solle sie Königin über
alle Blumen werden! Ja, das war wahrlich ein anderer Mann als
der Sohn der Kröte und der Maulwurf mit dem schwarzen Samtpelze.
Sie sagte deshalb ja zu dem herrlichen Prinzen, und von jeder
Blume kam eine Dame oder ein Herr, so niedlich, daß es
eine Lust war; jeder brachte Däumelinchen ein Geschenk,
aber das beste von allen waren ein Paar schöne Flügel
von einer großen, weißen Fliege; sie wurden Däumelinchen
am Rücken befestigt, und nun konnte sie auch von Blume
zu Blume fliegen. Da gab es viel Freude, und die Schwalbe saß
oben in ihrem Neste und sang ihnen vor, so gut sie konnte; aber
im Herzen war sie doch betrübt, denn sie war Däumelinchen
gut und wäre gerne immer mit ihr zusammen geblieben. Am
liebsten hätte sie sich daher nie von ihr trennen mögen.
»Du sollst nicht Däumelinchen heißen!«
sagte der Blumenelf zu ihr. »Das ist ein häßlicher
Name, und du bist schön. Wir wollen dich von nun an Maja
nennen.«
»Lebe wohl, lebe wohl!« sagte die kleine Schwalbe
und flog wieder fort von den warmen Ländern, weit weg,
nach Deutschland zurück; dort hatte sie ein kleines Nest
über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen
kann, vor ihm sang sie »Quivit, quivit!«»«Daher
wissen wir die ganze Geschichte.
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