Gesammeltes Märchen
der Brüder Grimm
Die hagere
Liese
Ganz anders als der faule Heinz und die dicke Trine, die sich
von nichts aus ihrer Ruhe bringen ließen, dachte die hagere
Liese. Sie äscherte sich ab von Morgen bis Abend und lud
ihrem Mann, dem langen Lenz, so viel Arbeit auf, daß er
schwerer zu tragen hatte als ein Esel an drei Säcken. Es
war aber alles umsonst, sie hatten nichts und kamen zu nichts.
Eines Abends, als sie im Bette lag und vor Müdigkeit kaum
ein Glied regen konnte, ließen sie die Gedanken doch nicht
einschlafen. Sie stieß ihren Mann mit dem Ellenbogen in
die Seite und sprach 'hörst du, Lenz, was ich gedache habe?
wenn ich einen Gulden fände, und einer mir geschenkt würde,
so wollte ich einen dazu borgen, und du solltest mir auch noch
einen geben: sobald ich dann die vier Gulden beisammen hätte,
so wollte ich eine junge Kuh kaufen.' Dem Mann gefiel das recht
gut, 'ich weiß zwar nicht,' sprach er, 'woher ich den
Gulden nehmen soll, den du von mir willst geschenkt haben, aber
wenn du dennoch das Geld zusammenbringst, und du kannst dafür
eine Kuh kaufen, so tust du wohl, wenn du dein Vorhaben ausführst.'
'Ich freue mich,' fügte er hinzu, 'wenn die Kuh ein Kälbchen
bringt, so werde ich doch manchmal zu meiner Erquickung einen
Trank Milch erhalten.' 'Die Milch ist nicht für dich,'
sagte die Frau, 'wir lassen das Kalb saugen, damit es groß
und fett wird, und wir es gut verkaufen können.' 'Freilich,'
antwortete der Mann, 'aber ein wenig Milch nehmen wir doch,
das schadet nichts.' 'Wer hat dich gelehrt mit Kühen umgehen?'
sprach die Frau, 'es mag schaden oder nicht, ich will es nicht
haben: und wenn du dich auf den Kopf stellst, du kriegst keinen
Tropfen Milch. Du langer Lenz, weil du nicht zu ersättigen
bist, meinst du, du wolltest verzehren, was ich mit Mühe
erwerbe.' 'Frau,' sagte der Mann, 'sei still, oder ich hänge
dir eine Maultasche an.' 'Was,' rief sie, 'du willst mir drohen,
du Nimmersatt, du Strick, du fauler Heinz.' Sie wol lte ihm
in die Haare fallen, aber der lange Lenz richtete sich auf,
packte mit der einen Hand die dürren Arme der hagern Liese
zusammen, mit der andern drückte er ihr den Kopf auf das
Kissen, ließ sie schimpfen und hielt sie so lange, bis
sie vor großer Müdigkeit eingeschlafen war. Ob sie
am andern Morgen beim Erwachen fortfuhr zu zanken, oder ob sie
ausging, den Gulden zu suchen, den sie finden wollte, das weiß
ich nicht.
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