Gesammeltes Märchen
der Brüder Grimm
Der starke
Hans
Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten nur ein einziges
Kind und lebten in einem abseits gelegenen Tale ganz allein.
Es trug sich zu, daß die Mutter einmal ins Holz ging,
Tannenreiser zu lesen, und den kleinen Hans, der erst zwei Jahr
alt war, mitnahm. Da es gerade in der Frühlingszeit war
und das Kind seine Freude an den bunten Blumen hatte, so ging
sie immer weiter mit ihm in den Wald hinein.
Plötzlich sprangen aus dem Gebüsch zwei Räuber
hervor, packten die Mutter und das Kind und führten sie
tief in den schwarzen Wald, wo jahraus, jahrein kein Mensch
hinkam. Die arme Frau bat die Räuber inständig, sie
mit ihrem Kinde freizulassen, aber das Herz der Räuber
war von Stein; sie hörten nicht auf ihr Bitten und Flehen
und trieben sie mit Gewalt an weiterzugehen.
Nachdem sie etwa zwei Stunden durch Stauden und Dörner
sich hatten durcharbeiten müssen, kamen sie zu einem Felsen,
wo eine Türe war, an welche die Räuber klopften und
die sich alsbald öffnete. Sie mußten durch einen
langen, dunkelen Gang und kamen endlich in eine große
Höhle, die von einem Feuer, das auf dem Herd brannte, erleuchtet
war. An der Wand hingen Schwerter, Säbel und andere Mordgewehre,
die in dem Lichte blinkten, und in der Mitte stand ein schwarzer
Tisch, an dem vier andere Räuber saßen und spielten,
und obenan saß der Hauptmann. Dieser kam, als er die Frau
sah, herbei, redete sie an und sagte, sie sollte nur ruhig und
ohne Angst sein, sie täten ihr nichts zuleid, aber sie
müßte das Hauswesen besorgen, und wenn sie alles
in Ordnung hielte, so sollte sie es nicht schlimm bei ihnen
haben. Darauf gaben sie ihr etwas zu essen und zeigten ihr ein
Bett, wo sie mit ihrem Kinde schlafen könnte.
Die Frau blieb viele Jahre bei den Räubern, und Hans ward
groß und stark. Die Mutter erzählte ihm Geschichten
und lehrte ihn in einem alten Ritterbuch, das sie in der Höhle
fand, lesen. Als Hans neun Jahre alt war, machte er sich aus
einem Tannenast einen starken Knüttel und versteckte ihn
hinter das Bett; dann ging er zu seiner Mutter und sprach: »Liebe
Mutter, sage mir jetzt einmal, wer mein Vater ist, ich will
und muß es wissen.« Die Mutter schwieg still und
wollte es ihm nicht sagen, damit er nicht das Heimweh bekäme;
sie wußte auch, daß die gottlosen Räuber den
Hans doch nicht fortlassen würden; aber es hätte ihr
fast das Herz zersprengt, daß Hans nicht sollte zu seinem
Vater kommen.
In der Nacht, als die Räuber von ihrem Raubzug heimkehrten,
holte Hans seinen Knüttel hervor, stellte sich vor den
Hauptmann und sagte: »Jetzt will ich wissen, wer mein
Vater ist, und wenn du mir's nicht gleich sagst, so schlag ich
dich nieder.« Da lachte der Hauptmann und gab dem Hans
eine Ohrfeige, daß er unter den Tisch kugelte. Hans machte
sich wieder auf, schwieg und dachte: Ich will noch ein Jahr
warten und es dann noch einmal versuchen, vielleicht geht's
besser.
Als das Jahr herum war, holte er seinen Knüttel wieder
hervor, wischte den Staub ab, betrachtete ihn und sprach: »Es
ist ein tüchtiger, wackerer Knüttel.« Nachts
kamen die Räuber heim, tranken Wein, einen Krug nach dem
anderen, und fingen an die Köpfe zu hängen. Da holte
der Hans seinen Knüttel herbei, stellte sich wieder vor
den Hauptmann und fragte ihn, wer sein Vater wäre. Der
Hauptmann gab ihm abermals eine so kräftige Ohrfeige, daß
Hans unter den Tisch rollte, aber es dauerte nicht lange, so
war er wieder oben und schlug mit seinem Knüttel auf den
Hauptmann und die Räuber, daß sie Arme und Beine
nicht mehr regen konnten. Die Mutter stand in einer Ecke und
war voll Verwunderung über seine Tapferkeit und Stärke.
Als Hans mit seiner Arbeit fertig war, ging er zu seiner Mutter
und sagte: »Jetzt ist mir's Ernst gewesen, aber jetzt
muß ich auch wissen, wer mein Vater ist.«
»Lieber Hans«, antwortete die Mutter, »komm,
wir wollen gehen und ihn suchen, bis wir ihn finden.«
Sie nahm dem Hauptmann den Schlüssel zu der Eingangstüre
ab, und Hans holte einen großen Mehlsack, packte Gold,
Silber, und was er sonst noch für schöne Sachen fand,
zusammen, bis er voll war, und nahm ihn dann auf den Rücken.
Sie verließen die Höhle, aber was tat Hans die Augen
auf, als er aus der Finsternis heraus in das Tageslicht kam
und den grünen Wald, Blumen und Vögel und die Morgensonne
am Himmel erblickte. Er stand da und staunte alles an, als wenn
er nicht recht gescheit wäre. Die Mutter suchte den Weg
nach Haus, und als sie ein paar Stunden gegangen waren, so kamen
sie glücklich in ihr einsames Tal und zu ihrem Häuschen.
Der Vater saß unter der Türe, er weinte vor Freude,
als er seine Frau erkannte und hörte, daß Hans sein
Sohn war, die er beide längst für tot gehalten hatte.
Aber Hans, obgleich erst zwölf Jahr alt, war doch einen
Kopf größer als sein Vater. Sie gingen zusammen in
das Stübchen, aber kaum hatte Hans seinen Sack auf die
Ofenbank gesetzt, so fing das ganze Haus an zu krachen, die
Bank brach ein und dann auch der Fußboden, und der schwere
Sack sank in den Keller hinab.
»Gott behüte uns«, rief der Vater, »was
ist das? Jetzt hast du unser Häuschen zerbrochen.«
»Laßt Euch keine graue Haare darüber wachsen,
lieber Vater«, antwortete Hans, »da in dem Sack
steckt mehr, als für ein neues Haus nötig ist.«
Der Vater und Hans fingen auch gleich an, ein neues Haus zu
bauen, Vieh zu erhandeln und Land zu kaufen und zu wirtschaften.
Hans ackerte die Felder, und wenn er hinter dem Pflug ging und
ihn in die Erde hineinschob, so hatten die Stiere fast nicht
nötig zu ziehen.
Den nächsten Frühling sagte Hans: »Vater, behaltet
alles Geld, und laßt mir einen zentnerschweren Spazierstab
machen, damit ich in die Fremde gehen kann.« Als der verlangte
Stab fertig war, verließ er seines Vaters Haus, zog fort
und kam in einen tiefen und finstern Wald. Da hörte er
etwas knistern und knastern, schaute um sich und sah eine Tanne,
die von unten bis oben wie ein Seil gewunden war; und wie er
die Augen in die Höhe richtete, so erblickte er einen großen
Kerl, der den Baum gepackt hatte und ihn wie eine Weidenrute
umdrehte. »He!« rief Hans, »was machst du
da droben?« Der Kerl antwortete: »Ich habe gestern
Reiswellen zusammengetragen und will mir ein Seil dazu drehen.«
- Das laß ich mir gefallen, dachte Hans, der hat Kräfte,
und rief ihm zu: »Laß du das gut sein, und komm
mit mir.« Der Kerl kletterte von oben herab und war einen
ganzen Kopf größer als Hans, und der war doch auch
nicht klein. »Du heißest jetzt Tannendreher«,
sagte Hans zu ihm.
Sie gingen darauf weiter und hörten etwas klopfen und
hämmern, so stark, daß bei jedem Schlag der Erdboden
zitterte. Bald darauf kamen sie zu einem mächtigen Felsen,
vor dem stand ein Riese und schlug mit der Faust große
Stücke davon ab. Als Hans fragte, was er da vorhätte,
antwortete er: »Wenn ich nachts schlafen will, so kommen
Bären, Wölfe und anderes Ungeziefer der Art, die schnuppern
und schnuffeln an mir herum und lassen mich nicht schlafen,
da will ich mir ein Haus bauen und mich hineinlegen, damit ich
Ruhe habe.« - Ei ja wohl, dachte Hans, den kannst du auch
noch brauchen, und sprach zu ihm: »Laß das Hausbauen
gut sein, und geh mit mir, du sollst der Felsenklipperer heißen.«
Er willigte ein, und sie strichen alle drei durch den Wald hin,
und wo sie hinkamen, da wurden die wilden Tiere aufgeschreckt
und liefen vor ihnen weg.
Abends kamen sie in ein altes, verlassenes Schloß, stiegen
hinauf und legten sich in den Saal schlafen. Am andern Morgen
ging Hans hinab in den Garten, der war ganz verwildert und stand
voll Dörner und Gebüsch. Und wie er so herumging,
sprang ein Wildschwein auf ihn los; er gab ihm aber mit seinem
Stab einen Schlag, daß es gleich niederfiel. Dann nahm
er es auf die Schulter und brachte es hinauf; da steckten sie
es an einen Spieß, machten sich einen Braten zurecht und
waren guter Dinge. Nun verabredeten sie, daß jeden Tag,
der Reihe nach, zwei auf die Jagd gehen sollten und einer daheim
bleiben und kochen, für jeden neun Pfund Fleisch.
Den ersten Tag blieb der Tannendreher daheim, und Hans und
der Felsenklipperer gingen auf die Jagd. Als der Tannendreher
beim Kochen beschäftigt war, kam ein kleines, altes, zusammengeschrumpeltes
Männchen zu ihm auf das Schloß und forderte Fleisch.
»Pack dich, Duckmäuser«, antwortete er, »du
brauchst kein Fleisch.« Aber wie verwunderte sich der
Tannendreher, als das kleine, unscheinbare Männlein an
ihm hinaufsprang und mit Fäusten so auf ihn losschlug,
daß er sich nicht wehren konnte, zur Erde fiel und nach
Atem schnappte. Das Männlein ging nicht eher fort, als
bis es seinen Zorn völlig an ihm ausgelassen hatte. Als
die zwei andern von der Jagd heimkamen, sagte ihnen der Tannendreher
nichts von dem alten Männchen und den Schlägen, die
er bekommen hatte, und dachte: Wenn sie daheim bleiben, so können
sie's auch einmal mit der kleinen Kratzbürste versuchen,
und der bloße Gedanke machte ihm schon Vergnügen.
Den folgenden Tag blieb der Steinklipperer daheim, und dem
ging es geradeso wie dem Tannendreher, er ward von dem Männlein
übel zugerichtet, weil er ihm kein Fleisch hatte geben
wollen. Als die andern abends nach Haus kamen, sah es ihm der
Tannendreher wohl an, was er erfahren hatte, aber beide schwiegen
still und dachten: Der Hans muß auch von der Suppe kosten.
Der Hans, der den nächsten Tag daheim bleiben mußte,
tat seine Arbeit in der Küche, wie sich's gebührte,
und als er oben stand und den Kessel abschaumte, kam das Männchen
und forderte ohne weiteres ein Stück Fleisch. Da dachte
Hans: Es ist ein armer Wicht, ich will ihm von meinem Anteil
geben, damit die andern nicht zu kurz kommen, und reichte ihm
ein Stück Fleisch. Als es der Zwerg verzehrt hatte, verlangte
er nochmals Fleisch, und der gutmütige Hans gab es ihm
und sagte, da wäre noch ein schönes Stück, damit
sollte er zufrieden sein. Der Zwerg forderte aber zum drittenmal.
»Du wirst unverschämt«, sagte Hans und gab
ihm nichts. Da wollte der boshafte Zwerg an ihm hinaufspringen
und ihn wie den Tannendreher und Felsenklipperer behandeln,
aber er kam an den Unrechten. Hans gab ihm, ohne sich anzustrengen,
ein paar Hiebe, daß er die Schloßtreppe hinabsprang.
Hans wollte ihm nachlaufen, fiel aber, so lang er war, über
ihn hin. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, war ihm der
Zwerg voraus. Hans eilte ihm bis in den Wald nach und sah, wie
er in eine Felsenhöhle schlüpfte. Hans kehrte nun
heim, hatte sich aber die Stelle gemerkt.
Die beiden andern, als sie nach Haus kamen, wunderten sich,
daß Hans so wohlauf war. Er erzählte ihnen, was sich
zugetragen hatte, und da verschwiegen sie nicht länger,
wie es ihnen ergangen war. Hans lachte und sagte: »Es
ist euch ganz recht, warum seid ihr so geizig mit eurem Fleisch
gewesen, aber es ist eine Schande, ihr seid so groß und
habt euch von dem Zwerge Schläge geben lassen.«
Sie nahmen darauf Korb und Seil und gingen alle drei zu der
Felsenhöhle, in welche der Zwerg geschlüpft war, und
ließen den Hans mit seinem Stab im Korb hinab. Als Hans
auf dem Grund angelangt war, fand er eine Türe, und als
er sie öffnete, saß da eine bildschöne Jungfrau,
nein, so schön, daß es nicht zu sagen ist, und neben
ihr saß der Zwerg und grinste den Hans an wie eine Meerkatze.
Sie aber war mit Ketten gebunden und blickte ihn so traurig
an, daß Hans großes Mitleid empfand und dachte:
Du mußt sie aus der Gewalt des bösen Zwerges erlösen,
und gab ihm einen Streich mit seinem Stab, daß er tot
niedersank.
Alsbald fielen die Ketten von der Jungfrau ab, und Hans war
wie verzückt über ihre Schönheit. Sie erzählte
ihm, sie wäre eine Königstochter, die ein wilder Graf
aus ihrer Heimat geraubt und hier in den Felsen eingesperrt
hätte, weil sie nichts von ihm hätte wissen wollen;
den Zwerg aber hätte der Graf zum Wächter gesetzt,
und er hätte ihr Leid und Drangsal genug angetan.
Darauf setzte Hans die Jungfrau in den Korb und ließ
sie hinaufziehen. Der Korb kam wieder herab, aber Hans traute
den beiden Gesellen nicht und dachte: Sie haben sich schon falsch
gezeigt und dir nichts von dem Zwerg gesagt, wer weiß,
was sie gegen dich im Schild führen. Da legte er seinen
Stab in den Korb, und das war sein Glück, denn als der
Korb halb in der Höhe war, ließen sie ihn fallen,
und hätte Hans wirklich darin gesessen, so wäre es
sein Tod gewesen. Aber nun wußte er nicht, wie er sich
aus der Tiefe herausarbeiten sollte, und wie er hin und her
dachte, er fand keinen Rat.
»Es ist doch traurig«, sagte er, »daß
du da unten verschmachten sollst.« Und als er so auf und
ab ging, kam er wieder zu dem Kämmerchen, wo die Jungfrau
gesessen hatte, und sah, daß der Zwerg einen Ring am Finger
hatte, der glänzte und schimmerte. Da zog er ihn ab und
steckte ihn an, und als er ihn am Finger umdrehte, so hörte
er plötzlich etwas über seinem Kopf rauschen. Er blickte
in die Höhe und sah da Luftgeister schweben, die sagten,
er wäre ihr Herr, und fragten, was sein Begehren wäre.
Hans war anfangs ganz verstummt, dann aber sagte er, sie sollten
ihn hinauftragen. Augenblicklich gehorchten sie, und es war
nicht anders, als flöge er hinauf. Als er aber oben war,
so war kein Mensch mehr zu sehen, und als er in das Schloß
ging, so fand er auch dort niemand. Der Tannendreher und der
Felsenklipperer waren fortgeeilt und hatten die schöne
Jungfrau mitgeführt. Aber Hans drehte den Ring, da kamen
die Luftgeister und sagten ihm, die zwei wären auf dem
Meer. Hans lief und lief in einem fort, bis er zu dem Meeresstrand
kam, da erblickte er weit, weit auf dem Wasser ein Schiffchen,
in welchem seine treulosen Gefährten saßen. Und im
heftigen Zorn sprang er, ohne sich zu besinnen, mitsamt seinem
Stab ins Wasser und fing an zu schwimmen, aber der zentnerschwere
Stab zog ihn tief hinab, daß er fast ertrunken wäre.
Da drehte er noch zu rechter Zeit den Ring, alsbald kamen die
Luftgeister und trugen ihn, so schnell wie der Blitz, in das
Schiffchen. Da schwang er seinen Stab und gab den bösen
Gesellen den verdienten Lohn und warf sie hinab ins Wasser;
dann aber ruderte er mit der schönen Jungfrau, die in den
größten Ängsten gewesen war und die er zum zweiten
Male befreit hatte, heim zu ihrem Vater und ihrer Mutter und
ward mit ihr verheiratet, und haben alle sich gewaltig gefreut.
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